Helena Hafemann
Die Ernte
Ausstellungslaufzeit: 30. November 2024 bis 11. Januar 2025
Artist Talk: 11. Januar 2025, 16 Uhr
Helena Hafemanns (*1997) Ausstellung „Die Ernte” erfüllt den Neuen Kunstverein Gießen mitten im Winter mit den Impressionen eines Spätsommertages. Goldene Ähren und tiefblaue Kornblumen schwingen in einer scheinbaren, leichten Brise und rascheln in einem warmen Licht. Ein Bild aus dem kollektiven Gedächtnis der Betrachter*innen an einen vergangenen Spaziergang über die Felder hinaus in die Weiten der Natur. Die Tausenden von Getreidehalmen, die fein säuberlich in Reih und Glied stehen und zu einem ca. 13 Quadratmeter großen Gesteck arrangiert sind, wurden von der Künstlerin nicht gesät.
Das Kornfeld, das im Kunstverein Gießen scheinbar über Nacht aus dem Nichts entwachsen ist, stand noch diesen Sommer in Taunusstein auf dem Hof eines Landwirts, der sich über Jahrzehnte hinweg der umweltfreundlichen, pestizidfreien Landwirtschaft gewidmet hat. Der Hof ist nun verkauft, die letzte Ernte ist eingefahren, die Verantwortung und die Traditionen des Anbaus wurden in andere Hände gelegt.
Was bleibt, ist eine Erinnerung an ein Kornfeld, das hinter Glas eingeschlossen in einem scheinbar endlosen Sommer verweilt. Zwischen Schnellstraße und altem Friedhof bietet der Neue Kunstverein Gießen eine Bühne für Interventionen und wandelt sich dieses Mal in eine Art Diorama.
Inmitten der dunkelsten Jahreszeit evoziert „Die Ernte” das Verlangen nach Licht und Wärme und wird so zu einem nostalgischen Rückblick auf einen Sommer, der längst vergangen ist. Doch dieses Gefühl hat auch eine beunruhigende Komponente: In den letzten Jahren häufen sich Extremwetterereignisse, Herbst und Frühling werden kürzer und in 2024 hat die Erderwärmung zum ersten Mal die 1,5-Grad-Marke überschritten. Helena Hafemanns Installation ruft nicht nur ein Gefühl der Sehnsucht wach, sondern konfrontiert uns auch mit den Auswirkungen des Anthropozäns – der Zeit, in der der Mensch das Klima und die Natur unwiderruflich geformt hat.
„Man erntet, was man sät” – dieses Sprichwort durchzieht die Ausstellung als stilles Mahnmal.
Das Diorama, als eine Art museale Darstellung und eingefrorener Moment, hebt die Fragilität der Natur und der landwirtschaftlichen Ressourcen hervor. Im Neuen Kunstverein Gießen wird „Die Ernte” sowohl zu einem Sehnsuchtsort als auch zu einer Dystopie, die das Konstrukt unserer Jahreszeiten infrage stellt.